08.11.2016 08:00 Uhr

Die Bürde der großen Vergangenheit

Titel gehören nach Wien,
Titel gehören nach Wien, "Dorfvereine" dürfen keine Hindernisse sein

Die beiden Wiener Erzrivalen Rapid und Austria haben vor allem ein Problem: Sich selbst, oder besser gesagt die überzogene Erwartungshaltung bedingt durch historische Erfolge. Seit Monaten macht sich vor allem der Rekordmeister so das Leben schwer. Ein Kommentar.

In Altach schlug Moumi Ngamaleu einen Salto. Schwindelig wurde aber der Austria. Die Wiener ließen sich am Sonntag im Ländle mit 1:5 herrichten. Dass der Zweite den (vom Europacup ausgelaugten) Vierten schlägt ist natürlich eine nicht standesgemäße Blamage, die historisch eingeordnet werden muss.

Zwei Stunden zuvor gab sich mit Rapid ein weiterer Großverein aus der Hauptstadt einem anderen Emporkömmling aus der Provinz geschlagen. Die 0:1-Pleite daheim gegen den Wolfsberger AC setzte obendrein einen Schlussstrich unter die Tätigkeit eines deutschen Duos: Trainer Mike Büskens und Sportdirektor Andreas Müller sind bei den Grün-Weißen seit Montag Geschichte.
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Der Kreis schließt sich. Immerhin verdankte Büskens seinen Job erst den "Dorfklubs". Gegen jene erzielte sein Vorgänger Zoran Barišić eine besonders magere Ausbeute. Drei Vizemeisterschaften hinter dem zugegebenermaßen ab und an schwächelnden Ligakrösus RB Salzburg reichten nicht, um den bis 2018 datierten Vertrag zu erfüllen. Der Titel sei leichtfertig verspielt worden, so die argumentative Grundlage der "einvernehmlichen" Trennung.

Für die Rückkehr in die "alte Heimat" hatte sich Rapid viel vorgenommen. Im "neuen Zuhause" sollte die Mission 33 erfüllt werden. Dem Rekordmeister, so die vorherrschende Meinung in Wien-Hütteldorf, stünde in regelmäßigen Abständen der Teller ja zu. Dass Rapid nach 14 Runden neun Punkte hinter den Spitzenreitern Sturm Graz und SCR Altach auf Rang fünf liegt, ist offenbar ein Affront. Sturm! Die Steirer feierten unlängst ihre 50-jährige Zugehörigkeit zur höchsten österreichischen Spielklasse am Stück - erst! Und Altach, von hinter dem Berg! Wofür steht deren SCR überhaupt?

Die "Verösterreicherung": Städte...

Die Fußball-Landkarte hat sich geändert, in Europa aber auch hierzulande. Sporthistoriker erklärten das Ende der Hegemonie der Wiener Vereine, die bis zur Einführung der Staatsliga den Meister exklusiv unter sich ermittelten, als "Verösterreicherung". Linzer, Innsbrucker, Salzburger und Grazer unterwanderten die Dominanz der Wiener schon lange. Seit den 90er-Jahren ging die Mehrheit der Meisterschaften in die Bundesländer.

In den vergangenen 41 Saisonen, also seit Einführung der Bundesliga 1974/75, holte die Austria 14 Meisterschaften, Salzburg (RB und der violette "Vorgänger") zehn, Wacker Innsbruck und Rapid je sieben, Sturm drei und der Grazer AK eine. Seit sich die Salzburger von Dietrich Mateschitz beflügeln lassen (2005/06), muss sich die Konkurrenz, ob Traditionsverein oder nicht, hinten anstellen.
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Bezeichnenderweise war es die Nummer zwei der Trainerwahl bei der ohne Ticket nach Europa dastehenden Austria, Peter Stöger, der für den letzten unverhofften Meistertitel außerhalb von Wals-Siezenheim verantwortlich zeichnete. Er hatte zuvor in Wiener Neustadt bewiesen, wie mit bescheidensten Ressourcen umgegangen werden muss.

... und Dörfer

Es sind es aber nicht mehr nur die Landeshauptstädte, die aufbegehren und in das Scheinwerferlicht drängen. Die nächste Phase ist bereits im Gange. Ried, der Prototyp des verächtlich so genannten "Dorfklubs" bahnte sich via Cupsieg bereits 1998 erstmalig den Weg in den Europacup. Pasching, Mattersburg, Grödig, Wolfsberg, Altach oder St. Pölten vertraten die rot-weiß-roten Farben seither ebenfalls schon international. Der guten Arbeit spielt auch in die Karten, dass "die Großen" nicht mehr das sind, wofür sie sich halten.

Längst spielen die besten österreichischen Fußballer nicht mehr bei Rapid und Austria, ja nicht einmal zwingend in Salzburg, sondern in Deutschland und England. Selbst mittelmäßige ÖFB-Kicker gehen rund um die Welt verteilt Hobby und Beruf nach. Fußballbegeisterte Kinder träumen nicht mehr davon der nächste Prohaska oder Krankl zu werden, sondern nennen Messi, Ronaldo und Neymar als ihre Idole. Sie machen mitunter einen Alaba und verabschieden sich bereits im Teenager-Alter aus Österreich.

Vereine mit großer Geschichte, nicht nur hierzulande auch international, zerbrechen regelmäßig an dieser Bürde der Vergangenheit. Fragt nach in Liverpool, Hamburg oder auf Schalke, beim englischen und schottischen Verband.

Wer bei Null beginnt, schätzt Erfolge mehr

"Geschichtslosigkeit" kann somit ein Wettbewerbsvorteil sein. Beim aktuellen Tabellenzweiten Altach beginnt die Arbeit nicht mit Anspruchsdenken. Trainer Damir Canadi, übrigens ein Wiener, arbeitete sich über Jahre aus den Tiefen des Amateurfußballs die Karriereleiter hinauf, nahm dabei die Vorarlberger mit in die Bundesliga sowie die Qualifikation der Europa League - und blieb trotzdem im Ländle!

Sportdirektor Georg Zellhofer, Vater des Paschinger Dorfwunders und in Wien zuerst bei Rapid und dann der Austria weitgehend belächelt, zieht die Fäden im Hintergrund. Die Vereinsleitung arbeitet ehrgeizig daran, auch das Stadion international tauglich zu machen. Ein Bauprojekt mit Ansage.

Womit sich die Altacher jedoch nicht befassen müssen ist die Frage, ob es vierzehn geholte Meisterschaften vor 1945 braucht, um einen Erbanspruch auf Erfolge abzuleiten. Sie leben im Hier und Jetzt, kämen als "best of the rest" hinter Salzburg nicht auf die Idee, den Trainer zu stanzen.

Das Vorarlberger Fußballpublikum käme weder auf den Gedanken, den Coach trotz Punktlandung auf dem ausgegebenen Saisonziel wegen eines nicht den ästhetischen Ansprüchen genügenden Spielstils zu kritisieren. Noch würde die Meisterschaft per Spruchband-Ultimatum gefordert werden.

Die Wiener Vereine warfen in den vergangenen Jahren in Verkennung der Realität immer wieder die Nerven weg, werden von Schatten der Pokale im Vereinsmuseum heimgesucht. Solange die Provinz nicht für voll genommen und bestenfalls als Stolperstein betrachtet wird, werden Bauchfleck und Salto weiter zum Repertoire gehören. Weder Siege noch Titelgewinne sind Erbrecht. Das R in SCR steht übrigens für Rheindorf, wofür denn sonst?

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Sebastian Kelterer

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