16.06.2021 12:27 Uhr

Das lief gegen Frankreich alles schief

Bundestrainer Joachim Löw muss nun die Lehren aus der Niederlage gegen Frankreich ziehen
Bundestrainer Joachim Löw muss nun die Lehren aus der Niederlage gegen Frankreich ziehen

Deutschland verlor erstmals das Auftaktspiel bei einer EM-Endrunde. Und das verdient. Die Elf von Bundestrainer Joachim Löw stellte dem amtierenden Weltmeister Frankreich (0:1) zu wenige Aufgaben und offenbarte zugleich einige Baustellen. sport.de zeigt, welche das waren.

  • Dreier- oder Viererkette: Oder ist das System egal?

Wie bereits im letzten Vorbereitungsspiel gegen Lettland (7:1) setzte Joachim Löw auf eine Dreierkette mit drei gelernten Innenverteidigern und den Außenspielern Joshua Kimmich und Robin Gosens. Festzuhalten bleibt: Einerseits ließ Deutschland nur vier Schüsse des Weltmeisters zu – der Fokus auf eine stabile Defensive ging also weitestgehend auf - wobei die zwei Abseitstore Frankreichs und ein möglicher Elfmeter nach einem Konter jedoch nicht unterschlagen werden dürfen.

Andererseits spielte die Taktik den Franzosen eventuell in die Karten: Sie überließen der DFB-Elf zu 62 Prozent den Ball, zumeist aber in den ungefährlichen Räumen. Gegen die aufgerückten Außenverteidiger konnten sie so auf Konter lauern, was insbesondere in der zweiten Halbzeit gelang.

Auf den Außenpositionen wirkte das deutsche Spiel insgesamt zu statisch, zu wenig überraschend. Erst nach der Pause versuchten sich Gosens und Kimmich in Eins-zu-Eins-Situationen und kamen bis zur Grundlinie durch. Am Ende standen 16 Flanken aus dem Spiel heraus zu Buche – zur Halbzeit waren es gerade einmal drei – von denen jedoch lediglich ein Viertel an den Mann gebracht wurden.

  • Offensive: Müller nicht der erhoffte "Raumdeuter"

Vor dem Spiel wurde beinahe ausschließlich über die Abwehrformation diskutiert. Offensiv habe Löw die Qual der Wahl. Letztlich fiel diese wie erwartet auf Serge Gnabry als nominellen Mittelstürmer, Kai Havertz auf der linken Außenposition und Thomas Müller als ... ja, was eigentlich?

Müllers
Müllers "heat map" gegen Frankreich (Quelle: StatsPerform)

Seine unvergleichlichen Qualitäten kann er bekanntermaßen am besten als hängende Spitze zeigen. Löw wusste jedoch bereits vor dem Anpfiff, dass die Mitte dicht sein werde. Wo hielt Müller sich also auf?

Hauptsächlich agierte er auf den Außenpositionen, wo er seine Wirkung jedoch nicht entfalten konnte. In der ersten Halbzeit hatte Müller – wie übrigens auch Gnabry – nur einen Ballkontakt im gegnerischen Strafraum. Nach dem Seitenwechsel kam nur ein weiterer hinzu. In 90 Minuten hatte der DFB-Rückkehrer nur zwei Abschlüsse und verlor 73 Prozent seiner Zweikämpfe (sport.de-Note 5,0).

Natürlich lag es nicht einzig und allein an Müller. Die Deutschen waren nicht zwingend genug, was sich auch bei den Abschlüssen zeigte: Von zehn Versuchen ging nur einer auf das Tor von Hugo Lloris.

  • Zweikämpfe und Durchsetzungsvermögen der DFB-Auswahl

Der Weltmeister Frankreich agierte abgezockter und war den Deutschen physisch überlegen, was auch die Statistik zeigt: 60 Prozent der Zweikämpfe gingen aus deutscher Sicht verloren, nur Schweden war im bisherigen Turnierverlauf schwächer im Duell Mann gegen Mann (63 Prozent verlorene Zweikämpfe).

Der Weltmeister kam dabei in den 90 Minuten mit lediglich sieben Fouls und gänzlich ohne Gelbe Karte aus. Da es der DFB-Elf an Durchschlagskraft mangelte, geriet die Mannschaft von Didier Deschamps letztlich zu selten in bedrohliche Situationen. Ein Beispiel: 13 Mal ging ein deutscher Spieler ins Dribbling – nur einmal konnte er dieses für sich entscheiden. Eine erschreckende Quote.

"Kämpferisch", sagte Löw nach dem Spiel, "kann ich der Mannschaft keinen Vorwurf machen". Auch läuferisch stimmte die Leistung: Laut Angaben von "uefa.com" liefen die deutschen vier Kilometer mehr (113 km) als die französischen Spieler (109 km) - ungewöhnlich für ein Team mit mehr Ballbesitz. Die Franzosen standen jedoch kompakt und wurden zu selten in Bewegung gebracht.

  • Das Standardproblem der deutschen Nationalmannschaft

Wenn aus dem Spiel heraus nicht viel geht, muss ein Standard her. Dies ist immer noch ein entscheidender Faktor auf höchstem Niveau. Der ruhende Ball gehörte beim WM-Titel 2014 zu einer echten Waffe im deutschen Repertoire und führte zu nicht weniger als sechs Toren. Eines davon war übrigens der 1:0-Siegtreffer gegen eben jene Franzosen im Viertelfinale. Nach Freistoß von Toni Kroos war Mats Hummels damals per Kopf zur Stelle.

Rund sieben Jahre später scheint der ruhende Ball kein Faktor mehr zu sein. Erst nach 62 Minuten segelte die erste deutsche Ecke in den Strafraum. Und war genauso erfolglos wie die anderen vier.

Weitere drei Male hatte Deutschland einen Freistoß in aussichtsreicher Position. Toni Kroos und Leroy Sané verpassten es jedoch, Hugo Lloris zumindest zu prüfen.

  • Deutschland gegen Frankreich: Die Lehren

An einigen Stellschrauben, etwa den Standards, wird der Bundestrainer schon unmittelbar nach der Niederlage gegen Frankreich arbeiten können. Doch die Zeit ist knapp, mit Portugal wartet am Samstag ein ähnlich erfahrenes wie abgezocktes Team. Hoffnung macht einerseits, dass die Portugiesen dies gerade gegen Deutschland selten zeigten: Seit 2006 verloren sie alle vier Duelle bei großen Turnieren.

Andererseits muss das DFB-Team gerade in der Offensive zwingender werden und Lösungen gegen tief stehende Gegner finden. Löw ist in den kommenden Tagen gefordert, muss das Personal hinterfragen und die Baustellen weitestgehend beseitigen. Sonst kann sein letztes Turnier ganz schnell vorbei sein.

Lars Wiedemann

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