05.09.2022 11:10 Uhr

Midtjylland und die Macht der Daten

In der Vorsaison holte Midtjylland den dänischen Pokal.
In der Vorsaison holte Midtjylland den dänischen Pokal.

Der Auftaktgegner von Sturm Graz in der Europa League glaubt, einen Fußballverein auf Datenbasis führen zu können. Der Mix aus mathematischen Modellen, statistischen Spiel-Analysen und einem zahlengetriebenem Scouting verhalf dem FC Midtjylland zu einem kometenhaften Aufstieg bis in die Champions League. Obwohl einer der Chef-Prediger der Big Data den Club verlassen hat, sind Zahlen weiter Trumpf. Das musste jüngst auch der Trainer erfahren.

Bei Bo Henriksen stimmten die Zahlen nicht mehr. Nach einer schwachen Rückrunde, in der Midtjylland die Tabellenführung wegwarf, und nur vier Spielen der neuen Saison, musste der Trainer gehen. Das Spiel des also erneuten Vizemeisters war trotz guter Einzelspieler weniger attraktiv als früher, doch mindestens so wichtig war: es erfüllte die Zahlen-Vorgaben nicht mehr. Also war Schluss für Henriksen, im Daten-Mekka des dänischen Fußballs.

Untermauert wurde die Beurlaubung mit Argumenten aus dem Hause Smart Odds, einer Wettfirma mit Datenschatzkiste im feinen Londoner Bezirk Kensington, und im Besitz von Matthew Benham, dem Mehrheitseigner des FC Midtjylland. Benham, der in Oxford Physik studiert hat, verdiente sich mit seiner Sportwettenfirma dank innovativer Wahrscheinlichkeitsrechnungen eine goldene Nase. Und versucht seitdem seine Vision in fußballerischen Erfolg umzumünzen.

Erfolgsgeschichte

So schlecht gelingt ihm das nicht. Den lange zwischen zweiter und dritter Liga pendelnden Brentford FC führte er bis in die Premier League. Und Midtjylland ist drei Meister- und zwei Cuptitel später ebenso längst eine Erfolgsgeschichte im Stile des Hollywood-Klassikers "Moneyball", der den (datenbasierten) Aufstieg des Verlierer-Baseball-Teams Oakland Athletics nachzeichnet.

2014 ließ sich Benham von Rasmus Ankersen, einem früheren Spieler von Midtjylland, zu einem Einstieg in Herning überreden. Ankersen, fortan und bis Sommer dieses Jahres gewissermaßen Benhams Cheflobbyist vor Ort, sagte einst: "Wir können unsere Gegner nicht mit finanziellen Mitteln schlagen, also müssen wir schlauer sein als sie."

Gelingen soll das, indem ein Großteil der subjektiven (Trainer-)Einschätzungen durch Statistiken ersetzt wird. Der Fußball-Ansatz ist durchaus offensiv: Laut Benhams Modellen verteidigt man eine Führung am besten durch Angreifen, weil man sonst die Wahrscheinlichkeit eines eigenen Treffers reduziert und gleichzeitig die eines Gegentors steigert. Außerdem spielt Midtjylland ganz gezielt in jene Positionen, aus denen die Mannschaft laut Computer am wahrscheinlichsten trifft.

Zudem legte der kleine Club überproportional viel Wert auf ruhende Bälle - mit Erfolg. Zwischenzeitlich soll Midtjylland das erfolgreichste Team mit Standards in ganz Europa gewesen sein. Die menschliche Komponente kommt dann doch auch ins Spiel: Beim Scouting fertigen die Späher Verhaltensprofile der Profis an. Was die Kicker auf dem Platz zu leisten imstande sind, glauben die Scouts durch in London berechnete "KPIs" - Key Performance Indicators (Leistungsindikatoren) - bereits zu wissen. Aber wie sie ticken, ob der umworbene Rechtsverteidiger "ein Arschloch ist" oder nicht, wie Ankersen einmal zu Protokoll gab, das sollen lieber doch Menschen beurteilen.

2015 bezifferte Ankersen den Leistungsvorsprung, den sein Club mithilfe der Daten erzielen könne, mit fünf Prozent. Eine Welt im Profisport. Doch die Welt hat sich weitergedreht. Die Vision der Daten-Freaks hat sich gewissermaßen erfüllt, Datenanalyse gehört bei jedem ernst zu nehmenden Proficlub zum Standard-Repertoire. Der Vorsprung, den sich die Zahlen-Tüftler erhofft haben, ist geschmolzen. Trotzdem rühmt man sich auf der Homepage weiterhin als "innovativster Club Dänemarks". Auch durch den Verkauf von Club-Anteilen will Midtjylland spätestens 2025 zu den 50 Besten in Europa gehören.

Sanfter Umbruch bei Midtjylland

In einer Gruppe mit Lazio Rom und Feyenoord Rotterdam dürften die Dänen vorerst aber der auf dem Papier schlagbarste Gegner für Sturm Graz sein. Der holprige Liga-Start, ein Gesamt-2:7 in der CL-Qualifikation gegen Roger Schmidts Benfica, Verletzungen und der Transfer von Raphael Onyedika, dem Anker vor der Abwehr, hat Spuren hinterlassen. Am Donnerstag gastiert ein Team im (sanften) Umbruch in Graz. Das frühe Aufeinandertreffen hat - das wird Benham weniger gefallen - die Wahrscheinlichkeit für einen Grazer Erfolg erhöht.

Beobachter fragen sich, ob das auf Direktheit, Physis und frühes Pressing getrimmte Spiel unter Neo-Trainer Albert Capellas nun anders wird. Zwar deutete beim Debüt wenig darauf hin, doch mittelfristig soll der vom Zweierteam des FC Barcelona geholte Spanier das Ballbesitzspiel fördern. Geopfert hat Capellas gleich im ersten Spiel die defensive Dreierkette zugunsten einer Viererkette. Die zugrunde liegenden Zahlen aber, das versicherten die Vereinsverantwortlichen bei Capellas Bestellung, bleiben heilig.

apa

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