Deutschland mit "EM-Angst im Gepäck" gegen Österreich?
Julian Nagelsmann sucht die Emotion. Im Klassiker gegen Österreich steht er an der ersten Weggabelung seiner Amtszeit.
In der alten Kaiserstadt Wien funkelt längst die prunkvolle Weihnachtsbeleuchtung, die Touristen schleppen ihre Einkaufstüten um den Christbaum am Stephansdom. Julian Nagelsmann aber hat im ewig jungen Klassiker gegen Österreich keinerlei Geschenke zu verteilen - der Bundestrainer sucht verzweifelt die Emotion und muss die deutsche EM-Stimmung für die nächsten vier Monate retten.
Nach der alarmierenden Niederlage gegen die Türkei (2:3) werde es am Dienstag (20:45 Uhr/ZDF) im Ernst-Happel-Stadion keinesfalls einfacher werden, mahnt Nagelsmann. Österreich sei sogar noch stärker: "Die bringen extreme Emotionalität rein, was durch Ralf Rangnicks Fußball noch verstärkt wird. Da können wir direkt versuchen, die Punkte umzusetzen, die wir nicht so gut gemacht haben."
Die Zeitung Kurier vermutete am Montag schon, Deutschland lande gegen Mittag in Schwechat mit "der EM-Angst im Gepäck". Die am Samstag schwer ernüchterten Fans doch noch mit einem Hauch Euphorie ins Turnierjahr zu schicken, ist Nagelsmanns Ziel für ein großes Duell, das auf österreichischer Seite traditionell noch ein bisschen größer gemacht wird.
Julian Nagelsmann lobt Kai Havertz
Der spürbar verärgerte Nagelsmann steht früh an einer Weggabelung. Verliert die Nationalmannschaft in Wien, wäre der anfängliche Schwung verflogen, der Bundestrainer müsste sich einer intensiven Diskussion stellen. Die Fans würden dem nächsten Länderspielfenster im März eher entgegendämmern. Gewinnt sie, kann eine neue Dynamik nach dem Türkei-Rückschlag entstehen.
Seine Spieler müssten auf "demselben Emotionsniveau sein" wie der Gegner, "jeder einzelne Spieler", fordert Nagelsmann: "Dann wird sich die größere Qualität durchsetzen."
Seine Taktik-Idee wird der Bundestrainer voraussichtlich konsequent durchziehen. Mit überschwänglichem Lob für Kai Havertz, den neuen Linksverteidiger bzw. Schienenspieler mit Vorwärtsdrang, hat er sich dazu selbst die Vorlage gegeben. Sensationell, gar "Weltklasse" sei die Leistung des umgeschulten Offensivspielers in Berlin gewesen, schwärmte Nagelsmann.
Allerdings wackelte die Defensive insgesamt wieder mal bedenklich. Kann es der Abwehr tatsächlich Stabilität bringen, die Abwehr zu schwächen? Havertz bekomme auf dieser Position die Chance, "ein prägender Spieler der Heim-EM zu werden", betonte Nagelsmann. Das klingt so gar nicht, als würde er das Experiment - das er selbst partout nicht so nennen will - wieder einstampfen. Gut möglich aber erscheint, dass er in der Zentrale den wieder voll fitten Routinier Mats Hummels bringt.
Verändert das DFB-Team sein Mittelfeld?
Zudem hat der Bundestrainer offensichtlich eingesehen, dass Ilkay Gündogan und Joshua Kimmich zusammen vor der Abwehr nicht funktionieren. Zumindest nicht dann, wenn es körperlich kracht. "Die tun sich nicht gut, wenn sie zusammenspielen", analysierte auch Lothar Matthäus, trotz erwiesener Klasse beider.
Doch wie reagiert Nagelsmann auf diese Erkenntnis? Gündogan ist sein Kapitän, sein Metronom im Aufbau, und damit gesetzt. Kimmich, darauf hat sich der Bundestrainer am Freitag erst festgelegt, werde nicht nach rechts hinten versetzt, sondern verbleibe im Portfolio seiner Sechser. Doch Gündogan benötigt eigentlich einen Dazwischenhauer, Abräumer, Ball-Lieferanten, Staubsauger hinter sich, wie auch immer man das nennen mag. Mit Pascal Groß hat er auf der USA-Reise gut harmoniert.
Wichtiger als die Aufstellung ist Nagelsmann ohnehin die Leidenschaft. Stehe dabei der Zeiger auf Anschlag, müsse die Taktik gar nicht so brillant ausgefeilt sein. Der Bundestrainer hatte bei seinem Amtsantritt verkündet, er werde die Dinge einfach halten, wie Rudi Völler beim Sieg gegen Frankreich ("Einfachheit in Perfektion").
Doch seine Havertz-Rochade widerspricht diesem Ansatz. Plötzlich ändern sich Laufwege, Absicherungsmodelle, Havertz schien bei gegnerischem Ballbesitz nicht zu wissen, wie hoch er stehen soll - wie auch, ihm fehlen die Erfahrungswerte. Fünf Spiele sind es nur noch, bevor in sieben Monaten die Heim-EM beginnt. Mit ganz viel Emotion.